Dr. Rainer Hagencord
Projekt einer Zoologischen Theologie
Dr. Rainer Hagencord wurde nach dem Theologiestudium 1987 zum Priester geweiht. Danach studierte er Biologie und Philosophie mit Schwerpunkt Verhaltensbiologie. 2004 promovierte er zum Thema "Das Tier: Eine Herausforderung für die christliche Anthropologie.“ 2009 gründete er mit Dr. A. Rotzetter, einem Kenner franziskanischer Spiritualität, das Institut für Theologische Zoologie.
Die Verhaltens- und Evolutionsbiologie überrascht mit immer mehr Hinweisen darauf, dass uns von den Tieren wenig trennt. Gefühle, Bewusstsein, das Lernen und Lehren finden sich nicht nur beim Menschen.
Die Bibel erzählt vom Menschen und seinen Mitgeschöpfen: Menschen sind „Erdlinge“, Tiere die Zuerst-Gesegneten der Schöpfung. Sie waren Mitbewohner einer Welt ohne Gewalt und nicht zuletzt Lehrende für Hiob und Jesus.
Diese biblische Würdigung der Mitgeschöpfe ist verloren gegangen.
Wenn der Trend anhält, wird schon in 10 Jahren etwa ein Drittel aller Tierarten ausgerottet sein. Es verschwinden allerdings auch die „Nutztiere“, obwohl ihre Zahl zunimmt: Hühner, Schweine und Rinder fristen in immer größeren Tierfabriken ihr Dasein und werden nicht mehr als Geschöpfe wahrgenommen.
Mit Blick auf die Mitgeschöpfe geht die Theologische Zoologie drei zentralen Fragen nach:
An welchen Gott wollen wir glauben?
Wie verstehen wir uns selbst?
Wie wollen wir leben?
Matinee mit Dr. Rainer Hagencord am 12. April 2015
Norbert Bogerts, Teilnehmer der Matinee, greift Stichworte des Vortrags auf und führt sie näher aus. (Geringfügige redaktionelle Überarbeitung)
Dr. Hagencord plädiert für eine Erweiterung der anthropozentrischen Theologie, denn Tiere seien mehr als Kulisse, als Ressourcenbedarf. Er wendet sich gegen die industrielle Massentierhaltung (von den 6 Millionen Schweinen, die in Deutschland jährlich getötet werden, geschieht dies bei 3 % ohne Betäubung) über die man sich empören müsse. Diese "strukturelle Sünde" erfordere ein politisches Engagement: Empörung sei ein Motor der Theologie; Christen sollen sich politisch positionieren.
Hagencord erläutert seine Sichtweise anhand des Emblems des von ihm gegründeten "Instituts für Theologische Zoologie": Hier ist Hieronymus in Augenhöhe dargestellt mit einem Löwen; das Emblem basiert auf einer Legende: In der Wüste begegnet Hieronymus einem verletzten Löwen; er zieht ihm den Dorn aus dem Fleisch, der Löwe wird sein Freund. Die tiefenpsychologische Deutung dieser Legende besteht darin, sich mit dem Bedrohlichen anzufreunden.
Haben Tiere eine Seele? Die Etymologie der beiden Worte "animal" und "anima" deuten darauf hin. Hagencord berichtet von einer Kindheitserfahrung: Sein geliebter Dackel verstand ihn zeitweise besser als sein Bruder: Der Mensch ist ein Mit-Geschöpf.
In Schule und Studium begegnete ihm keine theologische Würdigung der Tiere, eine katastrophale Erfahrung für ihn. Tiere sind heute zum Ressourcenlager verkommen; die Theologie steht mit dem "Rücken zum Tier"; bei Hieronymus war das anders; hier handelt es sich um Theologie mit dem "Gesicht zum Tier" (s. Emblem).
Der Literaturpreisträger Elias Canetti beschreibt die Ausrottungsmaschinerie: "Mit zunehmender Erkenntnis werden die Tiere dem Menschen immer näher sein. Wenn sie dann wieder so nahe sind wie in den ältesten Mythen, wird es kaum noch Tiere geben." In 2030 werden voraussichtlich ein Drittel aller Arten ausgerottet sein - verantwortlich dafür sind das christliche Europa und "Gods own country" - die USA.
Thomas von Aquin formuliert das in etwa so: "Ein Irrtum über Geschöpfe mündet in einem falschen Wissen über Gott und führt den Geist des Menschen von Gott fort." Die Schöpfung ist wichtig, um Gott zu verstehen: Tiere kommen auf vielen Seiten der Bibel vor, ebenso auf dem Gemälde "Das Paradies" von Jan Brueghel (1625/1630). Anhand dieses Gemäldes stellt Hagencord dem Publikum drei zentrale Fragen:
- An welchen Gott wollen wir glauben?
- Wie verstehen wir uns selbst?
- Wie wollen wir leben?
In der Bibel stehen keine historischen Berichte, sondern literarische Texte wie Gedichte, Märchen mit Wahrheitsgehalt: Dies ist Nahrung für die Seele, denn wir finden uns in ihnen.
Das Paradies symbolisiert die Frage "Wie gelingt das Menschsein unter den liebenden Augen Gottes?" Die Antwort hat drei Strophen:
1. Strophe: Den Garten Eden behütet und bewahrt Adam = Mensch = Erdling, (nicht: Mann);
2. Strophe: Der Erdling hat Bedürfnis nach Gemeinschaft: Dieses Bedürfnis befriedigen die Tiere. Wenn ich mich verstehen will, versuche ich das Tier in ähnlicher Situation zu verstehen: Das bin ich selber. Es gibt in mir den Löwen etc.: Der Mensch muss das Animalische in sich erkennen und annehmen, so auch die Sexualität.
[Exkurs: Wenn Kirche Sexualität verdrängt, ist es kein Wunder, wenn dieses Verhalten sich in menschenverachtender Weise bei einigen ihrer Diener zeigt (Pädophilie); diese Verdrängung also auf die Kirche zurückschlägt und sie ihre Glaubwürdigkeit verliert.]
3. Strophe: Der Erdling, Adam, braucht Mitmenschen, Partnerschaft, Sexualität. In Eva findet er eine Partnerin.
4. Strophe: Die Schlange. Sie symbolisiert Vernunft, Moral, Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse. Die Sünde ist nicht das Apfelessen, sondern die Anmaßung, so sein zu wollen wie Gott.
Nun zeigt Hagencord ein Bild von Max Klinger mit dem Titel "Adam" (1880) und fordert die Zuhörer auf, ihre Gefühle beim Betrachten des Bildes zu äußern. Es zeigt den Exodus, Adam jenseits von Eden.
Anschließend projiziert Hagencord das Breughel-Gemälde ein zweites Mal, diesmal ist es jedoch eine Fotomontage von 2003, auf der die Menschen durch Tiere ersetzt sind. Das Paradies ist der Ort des Lebens; die Schlange, das klügste Tier, musste es auch verlassen.
Was hat das Tier noch, was der Mensch nicht mehr hat?
Nach Thomas von Aquin wurde der Mensch von Gott in Freiheit gesetzt; er muss Entscheidungen treffen. Tiere kennen dieses Problem nicht. Sie sind "gottunmittelbar".
Nun zitiert Hagencord das seiner Meinung nach schönste Märchen der Bibel: "Bileams Eselin" (4. Buch Moses, 22; 21-41). Seiner Ansicht nach mag die Kirche die Tiere nicht, sonst käme dieses wunderbare Märchen im Kindergarten, in Grundschule, im Erstkommunionsunterricht usw. vor. Denn hier geht es um das Mensch-Tier-Gott-Verhältnis:
Bileam ist Gottsuchender; die Eselin repräsentiert Gott und fragt "Warum schlägst du mich?"Bileam sitzt auf dem Rücken des Tieres, das bedeutet: ohne Tierwelt können wir nicht leben (Umgekehrtes wäre möglich). Auf Tiere ist Verlass; ihnen können wir vertrauen. (Z.B. kam bei dem furchtbaren Tsunami Weihnachten 2004 kein wild lebendes Tier ums Leben, da alle rechtzeitig geflohen waren.)
Der Clou der Geschichte ist, dass der Prophet den Engel nicht sieht. Deutung: "Verlass dich nicht auf selbstgemachte Gottesbilder, trau dich der Wirklichkeit (Tier) an!"
Bei diesem Märchen handelt es sich um "Theologie mit dem Gesicht zum Tier".
Wie kann es sein, dass die Würdigung der Tiere verloren gegangen ist?
Hier erwähnt Hagencord die Philosophen Descartes (1596-1650), Leibniz 1646-1716) und Kant (1724-1804).
Für Descartes sind Tiere im Gegensatz zum Menschen ("Cogito ergo sum"; «maître et possesseur de la nature») seelenlose Automaten, da sie keine vernunftbegabte Seele haben. Denn der Mensch erkennt Gott wegen seiner Vernunft; so wird der Mensch zum Ebenbild Gottes. Dieses mechanistische Bild des Tieres hat sich in unseren Naturwissenschaften, im Behaviorismus fortgesetzt: Das Tier ist ein auf Reize reagierender Automat.
In der Monadologie von Leibniz ist das Tier ebenfalls nicht vernunftbegabt; Kant kennt nur "Personen" und "Sachen", wobei das Tier selbstverständlich zu den "Sachen" zählt.
Nikolaus von Kues (1401-1464) hingegen vergleicht den Menschen mit einer Stadt mit fünf Toren:
Die fünf Tore (= Sinne) bringen uns Menschen Informationen, die uns mit der Welt verbinden; die Wirklichkeit ist voll von Gott; er spricht so mit uns.
Das Denken ermöglicht uns (ähnlich wie bei Tieren), Sinneseindrücke zu verwerten.
Der Mensch kann aber anders als Tiere die künftigen Folgen abschätzen und den Sinn des Handelns suchen. Das Handeln wird sinnvoll.
Gott ist ausgefaltet in allem (Panentheismus; griech.: pan en theo = alles in Gott).
Gottes Geist lebt in allem, was uns umgibt.
Es gibt die Schöpfung nur, weil es Gott gibt.
Schließlich projiziert Hagencord das Gemälde "Das verlorene Paradies" (1897) von Franz von Stuck.
Interpretation: Wir sind ein Geschöpf zwischen Tier (es erinnert uns an den Garten Eden) und Engel (er appelliert an unsere Verantwortung); wir brauchen Tier und Engel.
Hagencord ging während seines Vortages auf Publikumsbeiträge ein und stellte sich einer abschließenden Diskussionsrunde.
Statement von Hagencord:
Die "strukturelle Sünde" (s.o.) macht gesellschaftliche Gegenentwürfe erforderlich (z.B. Veganismus). Die Kirche hat die benötigte Infrastruktur (Kindergarten etc.), entsprechende Dinge zu bewegen (z.B. Kantinen, Kooperation mit Öko-Landwirtschaft).