Edgar Utsch, Matinee am 17.02.2013

Glaubensgehorsam statt Hierarchiehörigkeit!
„Aufruf zum Ungehorsam“

Edgar Utsch studierte Theologie und Philosophie in Bonn, Paris, Bochum und am ökumenischen Möhler-Institut in Paderborn. Bis 1980 war er Priester im Bistum Essen und anschließend Gymnasiallehrer. Seit Ende der sechziger Jahre engagiert er sich für die Verwirklichung von kirchlichen Reformen, u.a. als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft von Priester- und Solidaritätsgruppen in Deutschland (AGP). Er ist verantwortlicher Redakteur einer Beilage der kirchenkritischen Zeitschrift „imprimatur“.

Utsch wird den „Aufruf zum Ungehorsam“ von Pfarrern in Österreich erläutern. Darin haben sich die Unterzeichner offen zu einer evangeliumsgemäßen Praxis bekannt, der nicht nur das Kirchenrecht, sondern nach Meinung der Bischöfe auch das priesterliche Gehorsamsversprechen entgegensteht.

 

Vortrag beim „Theologischen Quartett“ in Trier am Sonntag, den 17.02.2013

Sehr geehrte Damen und Herren!

1. Gehorsam und Freiheit – ein kirchliches Grundproblem

Der Untertitel des heutigen Themas verweist auf dessen konkreten, schon nicht mehr ganz aktuellen, aber weiterhin fortwirkenden Anlass: Der „Aufruf zum Ungehorsam“ aus dem Jahr 2011 der österreichischen Pfarrerinitiative. Um diesen Aufruf, seine Genese, seine Wirkung, die Reaktionen wird es also vor allem gehen. Aber natürlich stellen sich mit dessen Inhalten und mit dem Vorgang selbst grundsätzliche Fragen, die wir heute Morgen auch ansprechen sollten.


Am Anfang, als Anregung ein Ihnen sicher vertrauter Text, der aber in einem unerwarteten Kontext vielleicht neu sprechen und aufgenommen werden kann:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus einer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen... Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat... u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.... Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.“(1)

Diese Worte Kants in seiner kleinen Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ sind Wasser auf die Mühlen derer, die sich für das freie Wort und das alternative Handeln in der Kirche einsetzen; zum Ungehorsam aufrufen und/oder sich die Freiheit zum Ungehorsam nehmen.

Doch ganz so leicht macht es uns Kant nicht – er lässt sich nicht so einfach vereinnahmen. Denn er unterscheidet zwischen dem öffentlichen und privaten Gebrauch der Freiheit; versteht unter „privat“ gerade „amtlich“ und betont, „der Privatgebrauch derselben [Freiheit] aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein“(2) Er verdeutlicht seine Position am Offizier, am Bürger und für unsere Überlegungen wohl besonders irritierend am Geistlichen:

„Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol [Glaubensbekenntnis] der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte.“(3)

Kant betont ausdrücklich, dass der Priester in Ausübung seines Amtes „nicht freie Gewalt hat“, sondern die kirchliche Lehre zu vertreten habe. Dies könne er, so das Argument Kants, weil in den vom Priester öffentlich kritisierten kirchlichen Satzungen „es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird.“(4) Für Kant ist klar: Würde ein Priester Letzteres annehmen, könnte er die Ausübung seines Amtes nicht mehr vor seinem Gewissen verantworten und müsste das Amt niederlegen. Also nicht: ungehorsam und bleiben, sondern konsequent sein und gehen.

Aber auch dies ist nicht sein letztes Wort. Denn bevor er Applaus von der falschen Seite bekommt, fügt er hinzu:

„Aber sollte nicht... eine Kirchenversammlung berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen, und diese gar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlecht abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig.“(5)

Also: Nichts und niemand darf die Menschen daran hindern. Wieder in den Worten Kants: „Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen, und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht.“(6)

Demnach: Unveränderliche Gesetze: null und nichtig; Dogmen als ungeschichtlich-ewige Wahrheiten: null und nichtig; Diskussionsverbote: null und nichtig; Roma locuta, causa finita: null und nichtig!

Konsequent stellt Kant für das Problem von Gehorsam und Freiheit eine entscheidende Frage: „Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?“(7)

Damit niemand in der Kirche auf die Idee kommt, diese „Volk-Gedanken“ wären nicht auf das Volk Gottes und somit auch auf die Kirche zu beziehen: Kant verweist ausdrücklich darauf, dass er den „Hauptpunkt der Aufklärung... vorzüglich in Religionssachen gesetzt“ habe, weil „jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.“(8) Also nicht nur auch, sondern vor allem in der Kirche sind Aufklärung, Freiheit und Mündigkeit not-wendig, gleichsam „heilige“ Pflicht.

Ich habe mit diesem kleinen philosophischen Ausflug begonnen, um etwas Abstand von tagesaktuellen Aufgeregtheiten zu ermöglichen und zugleich die grundsätzliche Bedeutung unseres Themas für die kirchliche Praxis und Struktur anzudeuten.

Gottfried Leder (Prof. em. Für Politische Wissenschaft an der Universität Hildesheim; Mitglied der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland; Moderator der Hildesheimer Diözesansynode 1989/90; Mitglied des ZdK bis 2007; Mitbegründer von „Donum vitae“ in Niedersachsen) kritisiert in den „Stimmen der Zeit“ zu Recht, dass beim augenblicklichen Dialogprozess die Grundsatzfrage von Gehorsam und Freiheit nicht eigens thematisiert werde: „ Inzwischen... wird immer spürbarer, dass es notwendig ist, den Dialog auch über das Thema des Gehorsams zu führen. Das zu sagen, lässt die prinzipielle rechtliche und moralische Bedeutsamkeit des Gehorsams völlig unberührt. Aber die Frage, ob und unter welchen Umständen die Verpflichtungskraft einer Gehorsamsforderung auch in der Kirche an Grenzen stoßen kann, sollte nicht immer wieder ausgewichen werden.“(9)

Ich füge hinzu: diese von Leder aufgezeigte Unterlassungssünde rächt sich in der Unverbindlichkeit von Gesprächen, Beschlüssen, Empfehlungen und vor allem in der endgültigen Frustration gerade engagierter Frauen und Männer in der Kirche. Denn in der Kirche kann heute nicht die Einstellung gelten, die Kant seinem angeblich aufgeklärten preußischen Monarchen Friedrich II. – allerdings pikanterweise unter der Voraussetzung eines wohldisziplinierten zahlreichen Heeres – zugesteht: „Räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht.“(10)

Damit sind wir aber in den unerlässlichen „Niederungen“ des kirchlichen Alltags angekommen und somit auch beim konkreten Anlass unseres Themas:

2. Der „Aufruf zum Ungehorsam“

2.1 Inhalt des Aufrufs

Zunächst der Inhalt des Aufrufs (in Auszügen), der am Dreifaltigkeitssonntag, den 19. Juni 2011 veröffentlicht wurde:


„Die römische Verweigerung einer längst notwendigen Kirchenreform und die Untätigkeit der Bischöfe erlauben uns nicht nur, sondern sie zwingen uns, dem Gewissen zu folgen und selbständig tätig zu werden:

Wir Priester wollen künftig Zeichen setzen:

1. Wir werden in Zukunft in jedem Gottesdienst eine Fürbitte um Kirchenreform sprechen. Wir nehmen das Bibelwort ernst: Bittet, und ihr werdet empfangen. Vor Gott gilt Redefreiheit.

2. Wir werden gutwilligen Gläubigen grundsätzlich die Eucharistie nicht verweigern. Das gilt besonders für Geschieden-Wiederverheiratete, für Mitglieder anderer christlichen Kirchen und fallweise auch für Ausgetretene.

3. Wir werden möglichst vermeiden, an Sonn- und Feiertagen mehrfach zu zelebrieren, oder durchreisende und ortsfremde Priester einzusetzen.. Besser ein selbstgestalteter Wortgottesdienst als liturgische Gastspielreisen.

4. Wir werden künftig einen Wortgottesdienst mit Kommunionspendung als „priesterlose Eucharistiefeier“ ansehen und auch so nennen. So erfüllen wir die Sonntagspflicht in priesterarmer Zeit.

5. Wir werden auch das Predigtverbot für kompetent ausgebildete Laien und ReligionslehrerInnen missachten. Es ist gerade in schwerer Zeit notwendig, das Wort Gottes zu verkünden.

6 Wir werden uns dafür einsetzen, dass jede Pfarre einen eigenen Vorsteher hat: Mann oder Frau, verheiratet oder unverheiratet, hauptamtlich oder nebenamtlich. Das aber nicht durch Pfarrzusammenlegungen, sondern durch ein neues Priesterbild.

7. Wir werden deshalb jede Gelegenheit nützen, uns öffentlich für die Zulassung von Frauen und Verheirateten zum Priesteramt auszusprechen. Wir sehen in ihnen willkommene Kolleginnen und Kollegen im Amt der Seelsorge.

Im Übrigen sehen wir uns solidarisch mit jenen Kollegen, die wegen einer Eheschließung ihr Amt nicht mehr ausüben dürfen, aber auch mit jenen, die trotz einer Beziehung weiterhin ihren Dienst als Priester leisten. Beide Gruppen folgen mit ihrer Entscheidung ihrem Gewissen – wie ja auch wir mit unserem Protest. Wir sehen in ihnen ebenso wie im Papst und den Bischöfen „unsere Brüder“. Was darüber hinaus ein „Mitbruder“ sein soll, wissen wir nicht. Einer ist unser Meister – wir alle aber sind Brüder. „Unsere Schwestern“ – sollte es unter Christinnen und Christen allerdings heißen. Dafür wollen wir beten. "Amen".

2.2 Vorgeschichte und Intention des Aufrufs

Im Vergleich mit den Priester- und Solidaritätsgruppen in Deutschland, die sich bereits 1969 zur Arbeitsgemeinschaft (AGP) zusammengeschlossen haben, bildete sich erst recht 2006 die „Pfarrerinitiative“ in Österreich. Vor dem Hintergrund der Nachkonzilsgeschichte, die in den letzten Jahren nach ihrer Ansicht immer mehr durch einen Retro-Kurs geprägt sei, (Die Mitglieser der AGP-Gruppen erkannten diesen Trend spätestens bei der Veröffentlichung der Enzyklika „Humanae vitae“ Pauls VI. im Jahre 1967) hielten die österreichischen Pfarrer, deren Initiative inzwischen über 400 Mitglieder umfasst, 2011 die Zeit der Petitionen für abgelaufen. Wegen der ungewissen Zukunft ihrer Gemeinden wollten sie die inzwischen bestehende pastorale Praxis mit ihren gegen die kirchenrechtlichen Vorschriften verstoßenden Fakten öffentlich machen. Die ursprünglich als „Pfingstaufruf“ geplante Erklärung wurde nicht termingerecht fertig. Darum wurde aus ihr, dem Inhalt gemäß, der „Aufruf zum Ungehorsam“. Das Un-Wort „Ungehorsam“ ein Zufall!


Inzwischen hat sich die Pfarrerinitiative ausdrücklich zum Stichwort „Ungehorsam“ bekannt. Man nimmt schon die Kritik ernst, dass man auf diese Weise die eigene Haltung desavouieren könne und besser vom Gehorsam dem Evangelium, dem Gewissen oder Gott gegenüber sprechen sollte. Helmut Schüller, der Obmann der Initiative und frühere Generalvikar der Erzdiözese Wien, betonte im November 2012 bei einem Vortrag vor der AG-Rottenburg(11), einer seit 1969 bestehenden Priestergruppe des Bistums Rottenburg-Stuttgart, dieser Gehorsam sei selbstverständlich die eigentliche Motivation des Handelns. Dennoch sei der Begriff „Ungehorsam“ nicht nur ein zufälliger, sondern ein hilfreicher Glücksgriff. Er mache nämlich deutlich, dass es um die Überwindung des herrschenden Systems gehe. Die Pfarrer wollten nicht mehr länger ein verlässlicher Teil eines autoritären Systems sein, in dem Personen Gehorsam einfordern, die selbst niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen müssen. Der Aufruf stelle also innerhalb des Systems die Frage nach dem System – ihre Protagonisten seien zugleich loyal und subversiv.

Außerdem: Trotz der hehren Aussagen des II. Vatikanums zur Würde des Volkes Gottes bleibe dieses ohne Rechte und damit lediglich Fußvolk. Mit dem Aufruf stellen sich die Pfarrer an die Seite ihrer Gemeinden und zwingen die Bischöfe, Position zu beziehen, wem gegenüber sie loyal sind, der Kurie, dem römischen System oder dem Konzil und v.a. dem Volk Gottes gegenüber. Darum lehnen die Pfarrer auch Gespräche, die ausschließlich zwischen ihnen und den Bischöfen gleichsam in Hinterzimmern stattfinden sollen, ab. Sie lassen sich nicht wieder ins System zurückholen. Ihre Absicht ist es, die Bischöfe zu einem Dialog mit dem „Kirchenvolk“, mit den Laien zu bewegen – ein Dialog nach vorher festgelegten Regeln und mit rechtlichen Konsequenzen. Kein unverbindlicher „Gedankenaustausch“! Es muss also um Mitentscheidung gehen, sonst würde die oft eingeforderte Mitverantwortung zu einer Loyalität mit dem zwingen, was andere entschieden haben.

Schüller zitierte Hanna Arendt – „Es hat niemand das Recht zu gehorchen.“ – und verwies darauf, dass nicht der Ungehorsam das eigentliche Problem sei, sondern der Gehorsam. Dieser habe nämlich die unvergleichbar größere Anzahl von Opfern verursacht. So habe der Begriff Ungehorsam auch nicht, wie z.B. Paul M. Zulehner in der Debatte um den Aufruf argumentiert, nur als Initialzündung gedient und jetzt ausgedient. Ungehorsam werde vielmehr erst dann überflüssig, wenn die in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlichen Grundrechte in der Kirche anerkannt und umgesetzt seien. Er werde dagegen zur Pflicht, wenn Gehorsam missbraucht wird.

Die Pfarrer begründen ihren Widerstand also zunächst aus ihrer Sorge um die (Über-) Lebensfähigkeit der Gemeinden vor Ort. Sie betonen das Recht der Getauften und Gefirmten auf eine wirkliche Teilhabe an den kirchlichen Entscheidungen. Schüller spricht deswegen auch am liebsten von Kirchenbürgerinnen und Kirchenbürgern.

2.3 Reaktionen
2.3.1 In Hierarchie und Vatikan

In seinem Brief(12) vom 7.7.2011 an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeigt sich der Erzbischof von Wien, Kardinal Schönborn „erschüttert“ von dem Aufruf. Er erinnert die Priester daran, dass sie bei ihrer Weihe dem jeweiligen Bischof „Ehrfurcht und Gehorsam“ versprochen haben. Er betont: „Der christliche Gehorsam ist eine Schule der Freiheit. Es geht um die konkrete Übersetzung ins Leben von dem, was wir in jedem Vaterunser beten, wenn wir den Vater bitten, sein Wille möge geschehen, im Himmel und auf Erden. Diese Bitte erhält ihren Sinn und ihre Kraft durch die innere Bereitschaft des Beters, den Willen Gottes auch dort anzunehmen, wo er von den eigenen Vorstellungen abweicht. Diese Bereitschaft konkretisiert sich auch im kirchlichen Gehorsam dem Papst und Bischof gegenüber.“


Wenn man das Verhältnis von Gehorsam Gott und der kirchlichen Autorität gegenüber so „gradlinig“, wohl besser
vereinfachend sieht, dann ist es nur konsequent, wenn Schönborn fortfährt: „Wenn es zur Gewissensfrage wird, dem Papst und dem Bischof gegenüber ungehorsam zu werden, dann ist eine neue Stufe erreicht, die zu einer klaren Entscheidung drängt. Denn dem Gewissen ist immer Folge zu leisten.“ Als Personen, die für solche Gewissensentscheide stehen nennt er Franz Jägerstätter, der sich weigerte, in Hitlers Armee Dienst zu tun, und John Henry Newman, der die anglikanische Kirche verließ und katholisch wurde. Trotz seiner Hoffnung, dass der „äußerste Fall“ nicht eintritt, zeigt der Kardinal ihn dennoch als wohl einzigen Weg auf: „Wer also im geprüften Gewissen zur Überzeugung kommt, dass „Rom“ auf dem Irrweg ist, der gravierend dem Willen Gottes widerspricht, müsste im äußersten Fall die Konsequenz ziehen, den Weg nicht mehr mit der römisch-katholischen Kirche zu gehen.“

Es gibt auch andere Stimmen zum Ringen um den richtigen Weg der Kirche und zu einer angemessenen Reaktion auf innerkirchlichen Widerstand.. Der Benediktinerabt Martin Werlen erinnert in seiner wirklich lesens- und beherzigenswerten Schrift „Miteinander die Glut unter der Asche entdecken“ an den Mönchsvater, den hl. Benedikt: „In seiner Mönchsregel schreibt er an die Adresse des Abtes, dass er sich bei geäußerter Kritik klug überlegen soll, ob der Herr diesen Menschen nicht gerade deswegen geschickt hat.“(13)

Natürlich ist der Unterschied zwischen Kritik und Ungehorsam zu beachten. Dennoch scheint mir aus diesen Worten des Abtes von Einsiedeln ein anderer Geist zu sprechen, besonders wenn man weiter liest: „Wer systematisch dafür sorgt, dass Kritiker verstummen – nicht etwa, weil die Probleme gelöst sind –, zerstört die Kirche, wie fromm er sich auch aufzuführen sucht. Es ist fatal, wenn besorgte Getaufte kaltgestellt werden, weil sie Asche schlicht und einfach Asche nennen. Nicht selten hört man die verletzende Bemerkung: „Wenn es ihnen nicht passt, sollen sie doch austreten“.“(14)

Meint aber bei aller vorsichtigen Formulierung der „äußerste Fall“ Kardinal Schönborns letztlich nicht diesen vermeintlichen Aus-Weg? Uns erinnert dass daran, dass zu Zeiten des sog. Kalten Krieges diejenigen die sich in der BRD kritisch zum nicht nur menschenverachtenden, sondern menschenvernichtenden Kapitalismus äußerten, zu hören bekamen, sie sollten doch „nach drüben“ gehen. Heute bezahlen mit ihrem Leid die arm Gemachten für die Taubheit den warnenden Stimmen gegenüber. Wer bezahlt schon jetzt und wie viele müssen in Zukunft zahlen für die Taubheiten in unserer Kirche?

Eine andere Reaktion kann natürlich hier nicht übergangen werden: Die Reaktion des Papstes. Das Außergewöhnliche an dieser Reaktion ist zunächst nicht ihr Inhalt, sondern ihre Tatsache als solche. Denn es ist sicher nicht selbstverständlich, dass der Papst in einer Predigt und gar bei einem wichtigen Anlass, nämlich bei die Chrisam-Messe am Gründonnerstag 2012, auf eine „Unbotmäßigkeit“ österreichischer Priester eingeht. Darum liegt die Frage nach den Motiven des Papstes nahe.

Ging es um die Eröffnung eines ernsthaften Dialogs? Ging es dem Papst um einen Sachbeitrag zu einer wirklich offenen Frage? Dann wäre die Form einer Predigt „deplatziert“. Außerdem: Die von den österreichischen Priestern angesprochenen Probleme sind nicht neu; die eingeschlagenen pastoralen Wege werden seit Jahrzehnten von vielen Priestern nicht nur in Österreich gegangen./(15) Nicht die Inhalte des Aufrufs dürften überraschen, sondern die aufgeregten Reaktionen. Es besteht schon seit über 40 Jahren Notwendigkeit und Pflicht zu einer päpstlichen Kenntnisnahme der Stimmen, die den dringenden Reformbedarf artikulieren! Eine angemessene Reaktion ist bis auf den heutigen Tag – trotz Rücktritts – ausgeblieben.

Es scheint eher das zufällige Glücks-Stichwort „Ungehorsam“ zu sein, das in Rom mehr aufgeschreckt als aufgeweckt hat, denn es stellt, wie auch Schüller betont hat (s.o.), die Macht- und Systemfrage. Diese sind den Römern immer schon wichtiger gewesen als Orthodoxie und vor allem Orthopraxie. Das pyramidale Haus wackelt, da muss der päpstliche Baumeister natürlich die hierarchische Statik festigen – mit frommen, verwirrenden Worten. Verwirrend, weil so getan wird, als könne man den Gehorsam Gott gegenüber an der Folgsamkeit, der „Hörigkeit“ dem Lehramt gegenüber ablesen.

So verwundert es schon ein wenig, dass die ersten Reaktionen der Angesprochenen verhältnismäßig positiv ausfielen, fühlten sie sich doch mit ihren Forderungen zumindest wahrgenommen. In der Sendung „Zeit im Bild“ (ZIB 2 im ORF) betonte denn auch der Obmann der „Pfarrer-Initiative“ Helmut Schüller noch am Abend des Gründonnerstags, bei aller Kritik an einzelnen Aussagen des Papstes, dass „keine Rede von Sanktionen oder einem Verbot“ gewesen sei. Wenn man seine Erwartungen an die kirchliche Hierarchie weit herunterschraubt – was natürlich von Realitätssinn zeugt – Dann kann man vielleicht mit Wenigem zufrieden sein.

Selbst Kardinal Schönborn lenkte die päpstlichen Worte nicht einfach auf die Mühlen der österreichischen Bischöfe. Er sprach allgemein von einer „Ermutigung für die Kirche in Österreich“, fügte allerdings hinzu, der Papst habe der Pfarrer-Initiative „ein paar sehr ernste Fragen gestellt“, was auch die Pfarrerinitiative nicht abgestritten hat. Doch ist zu fragen: Ist dem Fragensteller und den Bischöfen bewusst, dass sich diese Fragen zuerst an sie selber richten, da sie doch eine besondere Verantwortung auch für die Antworten bzw. deren Ermöglichung tragen?

Auch der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner, der in den Auseinandersetzungen eher eine vermittelnde Rolle spielt, verwies darauf, dass die Aussagen des Papstes „im Modus des Fragens“ formuliert seien. Auch den Papst bewege die Frage der kirchlichen Reform, allerdings verbunden mit der Frage, wie dies im Einklang mit dem Evangelium gelingen könne. Nun ist aber genau das das Anliegen zumindest der ernsthaften Reformkräfte nicht nur in Österreich.

Erklingt also in der Gründonnerstag-Predigt ein neuer Zungenschlag oder geschieht in ihr sogar eine Öffnung – so gering sie auch sein mag? Der Papstes stellt seine Ausführungen zum „Aufruf zum Ungehorsam“ in den Kontext einer grundsätzlichen Frage: “Wie muss diese Gleichgestaltung mit Christus, der nicht herrscht, sondern dient; der nicht nimmt, sondern gibt – wie muss sie in der oft dramatischen Situation der Kirche von heute aussehen?“(16) Und wenige Zeilen später fragt Benedikt: „Ist Ungehorsam ein Weg, um die Kirche zu erneuern?“

In der Predigt wird immer wieder auf den Gehorsam Christi seinem Vater gegenüber verwiesen, auf den „Gehorsam zum wirklichen Willen Gottes“, auf den „wahren Gehorsam“. Doch genau um diesen Gehorsam geht es doch den österreichischen Priestern und allen, die sich um eine Reform der Kirche im Geist des II. Vaticanum bemühen. Es hat doch niemand zum Ungehorsam Gott gegenüber aufgerufen! Der Papst selbst fragt doch – nach seinen Worten, um „es uns nicht zu leicht zu machen“ – ausdrücklich: „Hat nicht Christus die menschlichen Traditionen korrigiert, die das Wort und den Willen Gottes zu überwuchern drohten?“ Genau in dieser jesuanischen Tradition erheben die verantwortungsvollen Reformer ihre Stimme und durch sie sehen weltweit Priester ihre alternative, oft dem kirchlichen Gesetzbuch widersprechende Pastoral legitimiert.

In Anlehnung an die Worte Benedikt XVI.: „Wir wollen den Autoren des Aufrufs glauben, dass sie die Sorge um die Kirche umtreibt“, könnte man formulieren: Wir wollen dem Papst glauben, dass er seine Fragen ernst meint, ernst nimmt und darum weiß, dass es keine rhetorischen, sondern offene Fragen sind. Wie aber kann er dann z.B. auf angeblich „endgültige Entscheidungen“ (s.o. zu Kant) verweisen „zum Beispiel in der Frage der Frauenordination, zu der der selige Papst Johannes Paul II. in unwiderruflicher Weise erklärt hat, dass die Kirche dazu keine Vollmacht vom Herrn hat.“? Der Theologe Ratzinger müsste wissen, dass er hier mit einer Schein-Endgültigkeit argumentiert und mit der irrlichternden theologischen Kategorie der „Unwiderruflichkeit“ den Anschein der Unfehlbarkeit erweckt und die entsprechenden (Glaubens-Gehorsams-) Konsequenzen einfordert.

Benedikt weiß natürlich um den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Gehorsam Gott und dem jeder menschlichen, also auch bischöflichen und päpstlichen Autorität gegenüber. Aber in der konkreten Anwendung auf die binnenkirchliche Diskussion sieht er im kirchlichen Lehramt den alleinigen Garanten für die authentische Interpretation des wahren Willens Gottes. Weder das Gewissen des Einzelnen noch der sensus fidelium finden eine angemessene Würdigung und Berücksichtigung. Gehorsam Gott gegenüber zeigt sich dem Papst zufolge im Gehorsam der Kirche gegenüber, wobei Kirche mit dem kirchlichen Lehramt bzw. der Hierarchie gleichgesetzt wird. Bei aller Betonung des Gehorsams Gott gegenüber scheint Benedikt in seiner Predigt „den ihm und dem Lehramt zu leistenden Gehorsam in den Mittelpunkt“ zu stellen, wie es der ehemalige Sprecher der österreichischen Laien-Initiative, Herbert Kohlmaier, formuliert. Hier gleichen sich also die Positionen von Benedikt und Schönborn.

Die Sicht des Papstes relativiert natürlich seine – in seinem Mund – durchaus bemerkenswerten Hinweise auf die „Trägheit der Institutionen“, auf den „Immobilismus, die Erstarrung der Traditionen“ oder darauf, „neue Wege zu öffnen – die Kirche wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen“. Wenn er die „Dynamik der wahren Erneuerung“ in der Nachkonzilszeit „in lebendigen Bewegungen“ zu erkennen glaubt, wüsste man gerne, an welche „Bewegungen“ er dabei denkt – Reform- und Solidaritätsgruppen wie in Österreich, Deutschland und der Schweiz, Reformbewegungen wie „Wir sind Kirche“ oder die „Initiative Kirche von unten“ gehören nach seiner Meinung wohl eher nicht dazu. Eine Frage des Papstes scheint das zu bestätigen: „Spüren wir darin (im Ungehorsam, der Verf.) etwas von der Gleichgestaltung mit Christus, die die Voraussetzung jeder wirklichen Erneuerung ist oder nicht doch nur den verzweifelten Drang, etwas zu machen, die Kirche nach unseren Wünschen und Vorstellungen umzuwandeln?“

Richtet sich diese Frage nur an die „einfachen Priester“, die „Reformer“ oder Laien? Wie „reinigen“ (um ein beliebtes Wort des Papstes aufzugreifen) wir alle die eigenen Wünsche und Vorstellungen? Auf welchen Wegen müsste darüber in der Kirche mit allen nachgedacht und gesprochen werden? Sind bei ihren Entscheidungen der Papst und die Bischöfe frei von eigenen – recht menschlichen – Wünschen und Interessen? Sind diese mit den Gedanken und dem Willen Gottes deckungsgleich? Im Buch Jesaja steht jedenfalls: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege – Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.“ (Jes 55,8.9) Von Ausnahmen ist nicht die Rede!

Übrigens, die Pfarrerinitiative hat zwei Gesprächen mit Vertretern des Vatikans geführt, einmal mit dem Nuntius in Wien und einmal mit dem Sekretär der Glaubenskongregation Erzbischof Luis Ladaria SJ. Gerade das letztere wurde von den Teilnehmern als angenehm und sehr offen empfunden. Die offiziellen Vertreter des Vatikans fanden jedenfalls nichts, was der Substanz des Glaubens widersprechen würde. Lediglich ein junger Kleriker, der das Gespräch in der Glaubenskongregation protokollierte, hat nach der Aussage Schüllers am Ende des Gesprächs den österreichischen Pfarrern die Leviten gelesen, so dass selbst der Erzbischof peinlich berührt gewesen sei, aber auch nicht widersprochen habe. Die Vermutung Schüllers: Im Vatikan habe immer mehr die zweite Reihe junger Theologen das Sagen, die sich z.B. aus den Reihen von „Opus Dei“ und der „Legionäre Christi“ rekrutieren.

Übrigens, auch der neue Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, hat sich kurz nach seiner Ernennung zum Gehorsam in der Kirche geäußert. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung stellte er fest: Ein Kirchenbild, „das davon ausgeht, dass die Menschen sich selber ihre Kirche schaffen, nach eigenem Geschmack und jeweiligem Zeitgeist“, sei „mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren.“(17)

Man wundert sich zunächst über die Schlichtheit der Aussage und ärgert sich dann über die Dreistigkeit, mit der Unterstellungen als Argumente vorgegaukelt werden. Wer vertritt denn das hier verurteilte Kirchenbild? Die Reformgruppen jedenfalls nicht. Ein Popanz wird aufgebaut, auf ihn wir eingedroschen, um unliebsame Stimmen zum Verschweigen zu
bringen. (s.o. Abt Werlen)

Eine eher erheiternder Lösungsvorschlag des österreichischen Weihbischof Laun mag die hierarchischen Reaktionen beschließen. Er meint, die Anliegen der Pfarrerinitiative seien doch längst geklärt. „Man muss nur die Antworten (der Bischöfe; der Verf.) annehmen und die Initiative einstellen.“(18)

2.3.2 Diskussionsbeiträge aus Österreich

Es ist nicht verwunderlich, dass die Debatte über den „Aufruf zum Ungehorsam“ recht kontrovers verläuft. Doch ist eine Tendenz zur Deeskalation festzustellen, die auch vom Sprecher des Wiener Erzbischofs, Michael Prüller, befördert wird. Er betonte bereit im August 2011: „Einen Showdown Schönborn-Schüller wird es nicht geben.“(19) Er fordert die Pfarrer zu einem gemeinsamen Reform-Weg auf und fügt hinzu: „Dazu müssen die Pfarrer nicht auf ihre Reformforderungen verzichten, aber vielleicht anders darstellen als in einem ‚Aufruf zum Ungehorsam’.“(20)


Die ernst zu nehmenden Stimmen betonen die Berechtigung der Anliegen der Pfarrerinitiative, warnen vor einem offen Bruch, konstatieren aber zugleich die Kluft zwischen Kirchenleitung und pastoraler Praxis und die Existenz eines latenten Schismas zwischen der großen Mehrheit reformorientierter Katholiken und einer konservativen „rom-treuen“ Minderheit. Beide Seiten werden aufgefordert aufeinander zuzugehen. Um zu Lösungen für das jetzt Machbare zu kommen, sollten die Pfarrerinitiative ihr „Forderungspaket“ – was es gar nicht ist; es ist ja eine Praxisbeschreibung – aufschnüren.(21)

Der Wiener Dagmatiker Prof. Jan-Heiner Tück warnt allerdings vor dem „Spiel mit dem Feuer“(22), da der Aufruf, den er als verzweifelten Schrei bezeichnet, im Widerspruch zum Gehorsams-Versprechen der Priester stehe. Nach ihm ist „der Streit um den zukünftigen Kurs der Kirche (ist) jedenfalls ein Streit um die Deutung des Zweiten Vatikanums.“(23) Damit hat er sicher einen Grundkonflikt benannt.

2.3.3 Deutsche Reformgruppen und Pfarrerinitiativen

Natürlich ist der Konflikt auch in Deutschland registriert und je nach kirchen-ideologischer Ausrichtung kommentiert worden. Es gab Solidarisierungen mit den österreichischen Pfarrern, und ihr Obmann ist im letzten Jahr zu vielen Veranstaltungen in Deutschland als Referent eingeladen worden. So hat er auch an der konziliaren Versammlung in Frankfurt a.M. vom 18. bis 21. Oktober 2012 teilgenommen.


In der Diskussion nach seinem Vortrag bei der AGR (s.o. S. 5) verwies Schüller auf eine Frage, die ihm immer wieder, auch bei internationalen Treffen, gestellt werde: „Was machen die Deutschen?“ Neben dem Verweis auf die frühe Gründung der AGP (s.o. S. 5) – man könnte auch noch die Gründung der „Initiative Kirche von unten“ 1980 und die Entstehung der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche 1995 nennen – möchte ich hier zwei Ereignisse in Deutschland zur Sprache bringen.

Die seit 1969 bestehende Priestergruppe aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart, die über 150 Mitglieder zählt, hatte schon Ende 2011 das Faltblatt „Unsere Positionen im Dialogprozess“ veröffentlicht. Die Rottenburger vertreten darin fast identisch „österreichische“ Positionen und machen deutlich, dass sie damit auch ihre Praxis – und zwar ihre langjährige Praxis – in den Gemeinden beschreiben. So heißt es z.B. zur eucharistischen Gastfreundschaft: „Wir bieten allen, denen die Einheit der Christen am Herzen liegt, die Eucharistische Gastfreundschaft an. Und wir verwehren den katholischen Christen nicht, die Einladung zum evangelischen Abendmahl anzunehmen.“(24) Schon 2004 hatten sich die Priester der AGR in einem offenen Brief an ihren Bischof zu dieser Praxis bekannt und Jahre vorher – als eine theologische Grundlage für diesen Schritt – die evangelischen Pfarrer als gleichwertige Amtsträger anerkannt. Doch ohne das Reizwort „Ungehorsam“ wurden diese Initiativen weder von den übrigen Reformgruppen, noch von der kirchlichen Öffentlichkeit, noch von den Medien angemessen registriert.

Die Arbeitsgemeinschaft von Priester- und Solidaritätsgruppen in Deutschland (AGP), zu der die gerade erwähnte AG-Rottenburg gehört, hat auf ihrer Jahresversammlung 2012 in Heppenheim eine Erklärung veröffentlicht, die die Überschrift unseres heutigen Themas trug: Glaubensgehorsam statt Hierarchiehörigkeit. Schon im Untertitel bekennen sich die Gruppen zu ihrer gesetzwidrigen Praxis.
Hier der Text der Erklärung:

Glaubensgehorsam statt Hierarchie-Hörigkeit

Arbeitsgemeinschaft von Priester- und Solidaritätsgruppen in Deutschland (AGP) bekennt sich zu
gesetzwidriger Praxis

Auf ihrer Jahresversammlung vom 28. bis 30. Mai 2012 in Heppenheim hat sich die AGP zum wiederholten Mal mit dem dringenden Reformbedarf in der römisch-katholischen Kirche befasst. Dabei fanden u.a. der „Aufruf zum Ungehorsam“ der Pfarrerinitiative in Österreich und die „Positionen im Dialogprozess“ der AG-Rottenburg, einer Mitgliedsgruppe der AGP, ausdrückliche Zustimmung.

Die AGP betont, dass sie die von diesen Priestergruppen benannten und praktizierten Reformen bereits seit 40 Jahren immer wieder gefordert hat. In dieser Zeit haben darüber hinaus viele Priester aus ihren Reihen eine an Wort und Handeln Jesu orientierte Praxis in ihren Gemeinden begründet bzw. gefördert. Dies geschah offen oder zuweilen wegen der pastoralen und persönlichen Situation in verantwortlicher Abwägung der Folgen auch ohne öffentliche Bekundung.

Sie
- ermöglichen wieder verheirateten Geschiedenen die volle Teilnahme an der Eucharistie;
- bieten Christinnen und Christen anderer Konfessionen eucharistische Gastfreundschaft an und nehmen selbst mit Gläubigen der eigenen Gemeinde am evangelischen Abendmahl teil;
- halten sich nicht an das Predigtverbot für Laien;
- setzen in solidarischen Initiativen die Option für die Armen um und unterstützen Befreiungsbewegungen in der Kirche.

Sie setzen sich dafür ein,
- Verheiratete, Frauen und Männer, zu allen kirchlichen Ämtern zuzulassen;
- das Recht aller Getauften auf Mitsprache und Mitentscheidung auf allen Ebenen anzuerkennen und zu garantieren;
- den römisch-klerikalen Zentralismus in der Kirche durch synodale und demokratische Strukturen zu beenden.

So kämpfen sie hartnäckig dafür,
- dem „Aggiornamento“ des Zweiten Vatikanischen Konzils in ihren Gemeinden und in der Kirche konkrete Gestalt zu geben.

Wegen ihrer pastoralen Praxis und des Eintretens für grundlegende Reformen nehmen Priester der AGP bis auf den heutigen Tag auch persönliche Diskriminierung, berufliche Benachteiligung und kirchenrechtliche Sanktionen seitens der Bischöfe in Kauf . Sie tun dies, weil ihr Handeln aus Gehorsam dem Evangelium und dem Gewissen gegenüber geschieht, der bei Anordnung unchristlicher kirchenrechtlicher Regelungen den Ungehorsam der kirchlichen Hierarchie gegenüber zur Pflicht macht. Sie können dies durchhalten, weil die überwiegende Mehrheit der Christinnen und Christen ihre Haltung und Praxis als befreiend erfährt und unterstützt.

Es ist höchste Zeit, dass die Bischöfe und alle, die Einfluss nehmen können auf kirchliche Entscheidungen, Gott mehr gehorchen als irgendeiner menschlichen – und damit auch kirchlichen – Obrigkeit, dass sie den Glauben und die Glaubenspraxis der Gemeinden ernst nehmen, sie offiziell als kirchlich bestätigen und die überfälligen Reformen endlich durchführen; vor allem um der Menschen und des Glaubens willen, aber auch, um die Zeit der Heuchelei zu beenden und einer weiteren Zerstörung der Kirche zu begegnen.

Heppenheim, den 30.5.2012 (25)

Ungehorsam als Alltagsphänomen, als Selbstverständlichkeit – in vielen deutschen Gemeinden.

Diese Erklärung benennt den neuralgischen, den entscheidenden Punkt, um den es in der Ungehorsams-Debatte geht, noch klarer und „offensiver“ als der österreichische „Aufruf zum Ungehorsam. Denn sie bleibt nicht bei der Aufzählung von Forderungen und der Darstellung eigener Praxis stehen, sondern spricht grundsätzliche Probleme an und kehrt im innerkirchlichen Streit gleichsam den Spieß um. Man lässt sich nicht an den kirchlichen Rand oder gar aus der Kirche herausdrängen. Mit Berufung auf das Evangelium, auf das Wort und Handeln Jesu, auf das eigene Gewissen und somit auf den im Glauben erkannten und verpflichtenden Willen Gottes erweisen sie den Ungehorsam gegenüber den Anordnungen der kirchlichen Hierarchie als christliche Pflicht, als Gehorsam – und nennen die den genannten Kriterien nicht entsprechenden Gesetze konsequenterweise unchristlich. Die kirchlichen Gesetzgeber stehen in der Beweispflicht. Sie haben aufzuweisen, dass ihre Anordnungen so zweifelsfrei mit dem Evangelium zu vereinbaren sind, dass das von ihnen angeordnete Verhalten das allein mit dem Willen Gottes übereinstimmende und darum das Gewissen bindende ist. Tun oder können sie dies nicht – und das wird für die aktuellen kirchenrechtlichen Vorschriften in den bekannten Problembereichen vorausgesetzt – müssen sie sich selbst den Vorwurf des Ungehorsams gefallen lassen. Dies klingt für fromme christliche Ohren vielleicht ungehörig.

Allerdings befinde ich mich mit diesen Anmerkungen in guter, sogar hierarchischer Gesellschaft. Der schon erwähnte Abt Werlen geht in seiner Schrift auf die leidvolle Erfahrung derer ein, die bereits seit dem Konzil für Reformen eintreten und die sich in letzter Zeit den unverschämten Vorwurf anhören müssen, z.B. von Kardinal Kasper, ihnen fiele nichts Neues ein. Ein weiterer Versuch der Bagatellisierung ist das Scheinargument, es handle sich nur um europäische Probleme. Dazu schreibt Werlen: “Es gibt Kirchenmänner, die heute darüber klagen, dass seit 40 Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert werden. Das sollte eigentlich einen durchschnittlich intelligenten Menschen nicht überraschen. Die gleichen Probleme werden immer wieder thematisiert, weil sie noch nicht gelöst sind. Andere Kirchenmänner wagen es immer noch zu sagen, dass es nur Probleme der deutschsprachigen Länder seien. Erstens stimmt das meistens nicht und zweitens muss man sich fragen, mit welcher Begründung Probleme im deutschsprachigen Gebiet nicht gelöst werden sollten, weil es diese Probleme in anderen Sprachgebieten nicht gibt. Probleme muss man dort lösen, wo sie auftreten.“(26)

Er macht dann klar, dass man durch die skizzierten Verdrängungsmechanismen nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern „auch das Glaubensgut aufs Spiel setzt.“ Und fährt dann fort: „Es geht um Wesentliches! Das Nichternstnehmen einer Situation und eines Menschen ist ein Akt des Ungehorsams. Weil Verantwortungsträger ihre Aufgabe nicht wahrnehmen und somit ungehorsam sind, werden als Nothilfe und Hilfeschrei Initiativen gestartet, die verständlich sind, aber auch zur Abspaltung und zum Verlassen der Institution führen können. Der von Amtsträgern beklagte Ungehorsam ist sehr oft Folge des Ungehorsams der Amtsträger. Ich habe Verständnis für viele Initiativen, die in den vergangenen Jahrzehnten gestartet wurden.“(27)

Trotz dieser Beispiele, nicht nur für die Solidarität mit der Pfarrerinitiative, sondern auch für eine sachliche Übereinstimmung mit ihr, war insgesamt die Reaktion deutscher Amtskollegen auf die Vorgänge in Österreich zunächst eher zurückhaltend. Das hat sich inzwischen, zumindest was den Süden der Republik angeht, geändert. Österreichischer Solidaritäts- und Widerstandsgeist hat die Alpen überwunden. Das gute Beispiel macht Schule. Im Laufe des Jahres 2012 bildeten sich Pfarrerinitiativen in den (Erz-) Diözesen Augsburg, Freiburg, München, Passau, Würzburg (existiert schon länger). Sie kamen am 25. Januar 2013 zu einem ersten Vernetzungstreffen in München zusammen. Ebenfalls vertreten war die erwähnte AG-Rottenburg, eine weitere Priester-und Solidaritätsgruppe aus dem Bistum Regensburg, außerdem die Pfarrei-Initiative aus der Schweiz und die „Vorbild“-Initiative aus Österreich.

Bei allen Unterschieden der einzelnen Gruppen, einig sind sie sich in ihrem „Interesse“: Angesichts der immer größer werdenden Pfarreien bzw. Seelsorgeeinheiten treten sie für eine Pastoral der Nähe und für entsprechende gemeindliche Strukturen ein. Das schließt gleichsam automatisch das Eintreten für bestimmte Reformen (auch für die „klassischen“ Reformforderungen) ein, die an ihrer Bedeutung für die gewünschte pastorale Wirklichkeit gemessen werden.

Zur gemeinsamen Ausrichtung der Initiativen heißt es im Protokoll u.a.:
- Nicht fordern, sondern tun!
- Pastorale Praxis benennen und begründen, unabhängig von ihrer kirchlichen Legalität.- Grundrechte und Menschenrechte fehlen. Wir haben Gehorsam versprochen denen, deren
Macht nicht kontrollierbar ist.
- Schlüsselfrage ist die Machtfrage in der Kirche, die evangeliumsgemäß geklärt werden muss.

Die Zeit einer Pastoral „hinter vorgehaltener Hand“, der stillschweigend geübten und ebenso hingenommenen alternativen, kirchengesetzwidrigen Praxis ist vorbei. Forderungen und Petitionen haben ausgedient – Es gilt die „faustische“ Devise: „Der Worte sind genug gewechselt. Lasst mich nun endlich Taten sehn!“ – Auch wenn diese vom kirchlichen Gesetzbuch nicht abgesegnet sind. Ein offenes Bekenntnis zur Ungehorsams-Praxis.

3. Macht und Gehorsam – ein kirchliches Dauerthema

Das Thema, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist von grundlegender Bedeutung und zugleich kirchenpolitisch hoch brisant und aktuell. Es ist aber auch ein Problem, das die Kirche von den Anfängen an begleitet. Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, ja Streit sind der Normalfall, kirchlicher Alltag. Wären sich kirchliche Kontrahenten auf allen Seiten dessen stärker bewusst – manche Aufgeregtheit entstünde erst gar nicht.


3.1 Ein Blick in das Neue Testament und auf das II Vatikanum

Schon Jesus hatte sich in seinem Jüngerkreis mit Ansprüchen auf und Rangstreitigkeiten um Macht und Ansehen, um die ersten Plätze herumzuschlagen. Seine Antwort lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Bei euch soll es nicht so sein!“ (Mt 20, 26a) Die in der Welt übliche Ordnung von oben und unten, von Befehl und Gehorsam, von wertvoll und bedeutungslos, von Ersten und Letzten – keine Ordnung für die Jünger Jesu. Für sie gilt: „Wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein.“ (Mt 20,27) Die Ordnung nach Menschen Art auf den Kopf gestellt – um wahrhaft menschlich zu sein.


Paulus macht im 12. Kapitel des 1. Korintherbriefs deutlich, dass dieses Lebenskonzept Jesu als Strukturprinzip der Gemeinde Wirklichkeit werden muss. Auch in Korinth gab es wohl solche, die meinten etwas Besseres zu sein. Paulus verweist sie auf die notwendige Vielfalt der Charismen und darauf, dass Gott selbst „dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen“ (1 Kor 12, 24) lässt.

Das Bild vom Leib Christi zeigt den Weg, wie Verantwortung zu teilen und dadurch Machtmissbrauch zumindest einzuschränken ist. Weil alle in der Kirche durch den einen Geist in den einzigen Leib eingegliedert wurden, darum nehmen, wie das Zweite Vatikanische Konzil betont, alle – auch die Laien – „an der Heilssendung der Kirche selbst“ (Lumen gentium Nr. 33) teil.

Daraus müssen sich konkrete Konsequenz ergeben :

Warum sollte es im Volk Gottes nicht auch außerhalb der Reihen der Amtsträger vom Geist Gottes inspirierte Propheten geben? Der Apostel jedenfalls ermutigt die Gemeinde, insbesondere nach der Gnadengabe der prophetischen Rede zu streben, da sie dem Aufbau der Gemeinde dient (1 Kor 14, 1.4). In der Kirchenkonstitution des II. Vatikanums heißt es gut paulinisch: „Christus, der große Prophet... erfüllt... sein prophetisches Amt nicht nur durch die Hierarchie, die in seinem Namen und in seiner Vollmacht lehrt, sondern auch durch die Laien.“ (LG Nr. 35)

Heute werden die Gemeinden immer kleiner. Hat das vielleicht damit zu tun, dass kirchliche Regelungen die prophetische Rede einschränken? Wie ist ein Predigtverbot für Laien – Gliedern des Volkes Gottes – zu begründen und zu verantworten? Der Evangelist Lukas berichtet, wie der Laie Jesus im Synagogengottesdienst das Wort ergreift – ohne offizielle Beauftragung, ohne amtliche Weihe. Sein Wort aber erreicht die Menschen, weil der Geist des Herrn auf ihm ruht (Lk 4, 18), weil es in Gott gründet und sich nicht einer bloß institutionell-religiösen Legitimation verdankt. Warum werden auch heute so viele Propheten in ihrer kirchlichen Heimat nicht anerkannt (Lk 4, 24)? Hält sich der Geist Gottes etwa nur an ein hierarchisch autorisiertes Verkehrsnetz? Hat man Angst davor, dass, wie von Jesus selbst, zu Partei ergreifend – für die „Zerschlagenen“! – von Befreiung und Freiheit gesprochen wird (Lk, 4, 18f)? Ihn wollten die Mächtigen deswegen im wahrsten Sinne des Wortes mundtot machen. Ein abschreckendes Beispiel!

Die Rede von der „Mit-Verantwortung“ – ist gemeinsame Verantwortung gemeint? – bleibt so lange unglaubwürdig, so lange den Laien eine wirkliche – auch rechtlich verbindliche – Mitentscheidung z.B. in Räten, Gremien und Dialogprozessen vorenthalten wird. Was heute in der Kirche notwendig ist, ist nicht Gehorsam als der Christinnen und Christen erste Bürgerpflicht, sondern Mitsprache und Mitentscheidung als Christenrechte.

Bischöfe brauchen hier wie in vielen anderen Fällen nicht auf Entscheidungen von Rom zu warten. Sie können jetzt handeln. Zumindest aber kann sich jeder Bischof selbst verpflichten, nichts gegen den erklärten Willen der Mehrheit repräsentativer Gremien zu entscheiden. Das wäre – öffentlich bekundet – ein ermutigender Schritt! Ein Akt bischöflichen Gehorsams!

Es würde dann kirchliche Wirklichkeit, was das II. Vatikanum ausdrücklich den Laien zubilligt: „Entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und der hervorragenden Stellung, die sie einnehmen, haben sie die Möglichkeit, bisweilen die Pflicht, ihr Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären.“ (LG Nr. 37) Hier sind sicher keine Beifallskundgebungen seitens der Laien gemeint. Wenn „bisweilen“ die Pflicht der Laien darin besteht, sich zum Wohl der Kirche zu äußern, dann muss dieses Wohl ja von anderen – von wem wohl? – auf’s Spiel gesetzt werden. (Das Konzil nimmt an dieser Stelle Bezug auf eine Äußerung Pius XII: „Dans les batailles décisives, c’est parfois du front que partent les plus heureuses initiatives.“) Wenn es in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ heißt: „Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben.“ (ebd. Nr. 44) – wie sollten dann die Hierarchen nicht auf die Stimme der Gläubigen hören?

Den neutestamentlichen Befund fasst A. Müller in seinem für unser Thema immer noch aktuellen während des 2. Vatikanums geschriebenen Buch zusammen: „Das Neue Testament zeigt uns ein Gemeindeleben, in welchem zwar die besondere Stellung der leitenden Glieder, vor allem der Apostel in der Gründungszeit und der Episkopoi der Pastoralbriefe, deutlich ist, aber eingebettet bleibt in ein starkes Bewusstsein von der gnadenhaften Priesterlichkeit der ganzen Gemeinde und von der Vielzahl der Gnadengaben nebst den leitenden Ämtern... Dass Christus das Haupt der Kirche ist, steht als die entscheidende Wahrheit da.“(28)

Kommen wir noch einmal zum Korintherbrief zurück. So sehr Paulus die Bedeutung der Gnadengaben für das Leben der Kirche betont, im 13. Kapitel des Korintherbriefes macht er deutlich: Auch die Gnadengaben gehören zum Vorläufigen, zum Begrenzten – wie die Kirche selbst (1. Kor 13, 8). Es gibt nur eine Ausnahme, eine Wirklichkeit, die die Zeit überdauert, Zeit und Ewigkeit verbindet und somit „bleibt“: die Liebe. Die eindrücklichen Bildern zeigen eins: Alles ist nichts ohne die Liebe!

Die „ehrwürdige Tradition“: nichts!
Die „ewigen Wahrheiten“: nichts!
Das „unfehlbare Lehramt“: nichts!
Die „göttliche Hierarchie“: nichts!
Vorschriften und Gehorsam: nichts!
Die Kirche: nichts!
Alles nichts – ohne die Liebe!

Liebe, wie der Apostel sie meint, ist natürlich kein bloßes Gefühl und auch keine private Eigenschaft; sie ist die zugleich persönlichste und sozialste Gabe des Geistes, die wir an ihren Früchten erkennen können (Mt, 7, 15 – 20) – im Leben des Einzelnen und der Kirche.

Darum sollten wir in den VV 4 – 8 einmal das Wort Liebe (bzw. sie) ersetzen durch Christ, Bischof, Kirche und durchbuchstabieren: ist langmütig, ist gütig, bläht sich nicht auf, sucht nicht den eigenen Vorteil, trägt das Böse nicht nach... Ist das die Beschreibung unseres Miteinanders in der Kirche? Unseres Verhaltens den Menschen gegenüber? Sind diese Zeichen der Liebe unsere Erkennungszeichen? Können wir ohne Erschrecken in den Spiegel dieser Fragen schauen?

Paulus weist im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes auf einen konsequenzenreichen Zusammenhang hin, auf den von Erkennen und Liebe. Erkenntnis verbinden wir zumeist ausschließlich mit Rationalität, Logik, Falsifizierbarkeit etc. Natürlich sind diese Ansprüche an wissenschaftliche Erkenntnisprozesse und -ergebnisse geradezu selbstverständlich. Auch wenn die Kirche von Wahrheit und Wahrheiten spricht, darf sie diese Kriterien nicht außer Acht lassen. Doch sie müsste deutlicher noch als die sich häufig überschätzenden Wissenschaften darum wissen, dass ihr Erkennen und ihre Wahrheiten nur Stückwerk sind. Diese Begrenztheit hat natürlich einen wesentlichen Grund darin, dass die Kirche im Letzten über ein Geheimnis spricht. Sie liegt aber entscheidend an dem allen Menschen und allem Menschlichen (und dazu gehört auch die Kirche!) eigenen Mangel an Liebe.

Erst in der liebenden Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ werden wir „durch und durch erkennen“ (1 Kor 13, 12). Die Liebe, von der wir oft behaupten, sie mache blind – sie macht sehend, lässt die Wahrheit, lässt den anderen erkennen. Erkennen als Liebes-Akt!

3.2 Konsequenzen für die kirchliche Praxis und Struktur

Wahrheit und Liebe gehören untrennbar zusammen. Das muss in der und durch die Kirche erfahrbar werden. Kirchliche Verlautbarungen dagegen vermitteln häufig den Eindruck von Weltfremdheit, Unmenschlichkeit, Überheblichkeit, Besserwisserei. Menschliche Gedanken werden mit göttlichen verwechselt und als solche behauptet. Diese sind aber bekanntlich nicht deckungsgleich (s.o. S. 11: Jes 55, 8f)! Es besteht vielmehr eine ziemliche Kluft, die wie jede Kluft zur Vorsicht mahnen müsste. Aber auch in der Kirche wird der Name Gottes oft gedankenlos in Beschlag genommen und nicht selten missbraucht für Machterhalt, die Durchsetzung eigener Interessen und das Erzwingen von Gehorsam. Nicht ohne Grund hat Karl Rahner einmal vorgeschlagen, den Begriff „Gott“ für lange Zeit aus dem kirchlichen Vokabular zu streichen.


Müssten Papst und die Bischöfe nicht mit gutem Beispiel vorangehen und achtsamer mit ihrem Wahrheitsanspruch, mit der Wahrheit selbst umgehen? Eingestehen, dass auch sie nur wie in einen Spiegel schauen? Bekennen, dass ihr Mangel an Liebe sie unfähig macht, die ganze Wahrheit zu erkennen?

Welche Konsequenzen hätte das für ihre Verkündigung? Für den Dialog in den eigenen Reihen? Für das Gespräch mit anderen Religionen; mit denen, die nicht glauben, mit den Suchenden? Für die ökumenische Begegnung? Welche Konsequenz auch für die eigene Hör- und „Gehorchsams“bereitschaft?(29)

Wenn die Kirche sich nur in der Liebe der göttlichen Wahrheit nähern kann und wenn ohne die Liebe ihr ganzes Tun nichts ist, dann darf sie z.B. nicht in endgültiger Weise wiederverheirateten Geschiedenen die Teilnahme am eucharistischen Mahl vorenthalten. Denn: Kann jemand ernsthaft meinen, die göttliche Liebe in kirchliche Gesetze fassen zu können mit der wirklich „unglaublichen“ Behauptung, diese entsprächen dem mit endgültiger Sicherheit erkannten Willen Gottes?

Es wäre ein großer Gewinn für die Glaubwürdigkeit der Kirche, wenn ihre Verkündigung geprägt wäre von „Wahrheits-Bescheidenheit“ und Zurückhaltung in Gehorsamsforderungen. Oft wird Gehorsam ja als Zeichen von besonderer Liebe zur Kirche angesehen. Umgekehrt ist es wohl richtig: Wo Liebe das Kennzeichen der Kirche ist, da haben Befehl und Gehorsam ausgedient oder werden zu Zeichen mangelnder Kirchlichkeit.

So lange die Kirchlichkeit an der Bereitschaft zum Gehorsam abgelesen wird, steckt die Kirche noch in ihren Kinderschuhen. Gotthard Fuchs zitiert in einem Beitrag für die Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“(30) Pierre Teilhard de Chardin: „Der Papst und alle Bischöfe zusammen sind ohnmächtig, uns genau alles zu sagen, was es in Christus gibt. Christus ist in der ganzen Kirche (Gläubige und Hirten) aller Zeiten. Damit Christus schließlich begriffen wird, braucht es die Anstrengung aller Christen bis an das Ende der Zeiten; und kein Konzil kann diese Reifung abschließen... Ich glaube, dass die Kirche noch ein Kind ist.“/(31) (so 1921!) In diesem Kontext erhält ein sträflich missachtetes Gebot Jesu eine besondere Bedeutung: „Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel ist.“ (Mt, 23, 9) Auch Rabbi (Meister) und Lehrer sollen wir niemanden nennen. Jesus verbietet entschieden gerade die religiösen Abhängigkeitsverhältnisse und betont: „..., ihr alle aber seid Brüder (und Schwestern, der Verf.)“. (ebd. 23, 8c)

Diejenigen, die sich zu Herren der Kirche gemacht haben, konnten dies nur, weil sie die Deutlichkeit der Worte Jesu mit mythisierenden Bildern vernebelt und verdrängt haben: die Bilder von der Mutter Kirche und ihren Kindern, von den Hirten und den Schafen und gar vom Heiligen Vater und seinen Söhnen und Töchtern. Diese Bilder und ihre religiös-psychologischen, aber auch hierarchisch-strukturellen Folgen haben in einer langen Geschichte bis heute dafür gesorgt, ein patriarchalisches System zu zementieren und den Ausgang aus der Unmündigkeit zu verhindern. Wen kann es da wundern, dass der Aufschrei der Profiteure des Systems groß ist, wenn nun die erwachsen gewordenen „Kinder“ ihr Mündigkeit nutzen und ihre Stimme in der Kirche erheben.

Mündigkeit ist ein Weg, den Prozess der Aufklärung auch in der Kirche entschieden zu verwirklichen. Hans Küng sagte in seiner „Vermächtnisrede“ auf der konziliaren Versammlung in Frankfurt (s.o. S. 12): „Wo eine Maßnahme der kirchlichen Autorität ganz offensichtlich dem Evangelium nicht entspricht, kann Ungehorsam und Widerstand erlaubt und sogar geboten sein.“(32)

Der Amtsverzicht Papst Benedikt XVI. könnte gerade in Bezug auf dieses Grundproblem der Kirche historisch sein. Der Berliner Kardinal Woelki hat in einem Interview davon gesprochen, dass das Papstamt durch den Rücktritt „entmystifiziert“, entzaubert werde. Auf die Frage, ob denn nicht die Gefahr (!) einer Verweltlichung des Amtes bestehe, bestätigte er die Möglichkeit dieser Gefahr. Doch wieso Gefahr? Das Papstamt ist kein Sakrament – es ist ein „weltlich Ding“! (J. Röser spricht in der Ausgabe dieses Wochenendes von „Christ in der Gegenwart“ mit Recht davon, dass „der jetzige Akt ein Stück Entmythologisierung, ja Entsakralisierung der obersten Lehrautorität“ bedeute.(33)) Das gezeigt und in Gang gesetzt zu haben zu haben, wäre – wenn es so gewollt war – das historische Verdienst Benedikt XVI. Es wäre ein Akt dringend notwendiger Befreiung und Aufklärung über das Wesen von Dienstämtern (andere gibt es gar nicht) in der Kirche. Dann aber kann auch kirchlicher Gehorsam entmystifiziert, entsakralisiert und Ungehorsam entdramatisiert werden Dann kann statt weiteren Pochens auf Gehorsam in der Kirche gleichsam die Zeit des besseren, überzeugenderen Arguments anbrechen.

Johannes Röser, der Chefredakteur von „Christ in der Gegenwart“, schreibt mit Bezug auf die neue Sinus-Studie: „Das Sinus-Institut beschreibt den Stimmungsumschwung (im Verlauf des Pontifikats BenediktXVI., der Verf.) unter Katholiken ungeschminkt, recht schroff: ‚Kritisiert wird die weltfremde, reaktionäre und obstruktive Kirchenleitung sowie die rückwärts gewandte Kirchenpolitik des Papstes, dem man nicht selten einen Rückfall hinter das Zweite Vatikanische Konzil unterstellt (‚Roll back’)’. Andererseits wird die ‚hierarchische Struktur der katholischen Kirche... als Traditionsbestand mehrheitlich nicht grundsätzlich infrage gestellt’, auch das Papsttum nicht. Diese Spannung zeigt vermutlich ein Autoritätsproblem und nicht nur ein Kommunikationsproblem. Genauer: Es geht um ein Argumentationsproblem. Viele sehr gute Argumente aus der Mitte des Volkes Gottes für den künftigen Weg der katholischen Kirche sind vom Lehramt schlichtweg ignoriert, mit Verweis auf weltkirchliche Regelungen weggetröstet oder als grundsätzlich irrelevant und unmöglich abgewiesen worden. Die Kirchenleitung setzt dabei – unterstützt von einigen einseitig ausgewählten Theologen – allein auf das Traditionsargument.“(34)

Aber gerade, um die Kirche zukunftsfähig zu machen, sind Reformen und auch Streit und Auseinandersetzungen notwendig. Der ehemalige Direktor und Berater von McKinsey, Thomas von Mitschke-Collande, zeigt in seinem Buch „Schafft sich die katholische Kirche ab?“, „dass der erforderliche Erneuerungsprozess bei einem radikal veränderten Selbstverständnis der Kirche ansetzen und mit professioneller Kommunikation zu einer offenen Diskussions- und Streitkultur führen muss.“(35) Er unterstreicht die Notwendigkeit zum „Mut zur Innovation, zum Abwerfen von unnötigem Ballast und auch zur Akzeptanz von loyalem Ungehorsam.“(36)

Das wird im System der römisch-katholischen Kirche nicht einfach sein. Eine recht illusionslose Analyse der Reform(un-)fähigkeit ihres Systems legen N. Lüdecke und G. Bier in ihrer Einführung in das römisch-katholische Kirchenrecht vor. Dort heißt es: „Sieht ein Katholik sich verstandesgemäß nicht in der Lage, einer Lehre zuzustimmen, hat er diesen Mangel an Einsicht durch den Willen zu überbrücken. Insofern der Wille durch Befehle angesprochen wird, hat die Zustimmung den Charakter eines Gehorsamsaktes. Zustimmung und Gehorsam sind in dieser Sicht nicht Alternativen. Es geht um Zustimmung aus und als Gehorsam.“(37) Es bleibt allenfalls „gehorsames Schweigen. Wer gehorcht, wird seiner Katholikenverantwortung gerecht.“(38) Gleichsam wie eine Charakteristik des systemkonformen römischen Katholiken: „Katholiken haben gehorsam zu sein.“(39) Man darf diese ernüchternde kirchenrechtliche Bestandsaufnahme nicht einfach übergehen, um sich in Illusionen über die Reformmöglichkeiten der römisch-katholischen Kirche flüchten. Aber natürlich ist diese kirchenrechtliche Sicht begrenzt nicht das letzte, was zu kirchlichen Erneuerungsprozessen theologisch gesagt werden kann und muss.

Geradezu hellseherisch hatte Röser am 3. Februar 2013, also 8 Tage vor der Rücktrittserklärung des Papstes, seine Überlegungen zum Autoritätsproblem, besser zum Argumentationsproblem damit begonnen, dass er an ein positiv gemeintes Diktum zu Beginn des Pontifikats von Benedikt XVI. erinnerte: „Dieser Papst wird noch für Überraschungen gut sein.“(40) Mit seinem Rücktritt hat er sicher viele überrascht. Ob er positive Konsequenzen haben wird? Für ein gehöriges Maß an Skepsis gibt es viele Gründe. Auf die notwendigen Reformen jedenfalls hat der scheidende Pontifex zu lange vergeblich warten lassen: 8 Jahre – sein ganzes Pontifikat.

Doch nicht eine Anmerkung zum Papst soll den Abschluss bilden. Vielmehr möchte ich abschließend – am Geburtsort von „imprimatur“ und in die Gründungszeit dieser Reform-Zeitschrift (Sie verdient diesen „Ehrentitel“!) zurückgehend – aus einer Erklärung des Redaktionsteams aus dem Jahre 1968 zitieren: „Kritik an der eigenen Kirche kann nicht einfach abgetan werden als Ungehorsam oder als Unterminierung der kirchlichen Einheit. Sie kann im Gegenteil die Liebe zur Kirche als Triebfeder für sich beanspruchen.“(41)







Quellennachweise

1) Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ds. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1; Werkausgabe Bd. XI; hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1978 (2. Aufl.), 53f

2) ebd. 55
3) ebd. 56
4) ebd. 57
5) ebd. 57
6) ebd. 58
7) ebd.
8) ebd. 60
9) Gottfried Leder, Gehorsam, Gewissen und der Dialog – Laienhafte Anfrage und Bemerkungen eines Betroffenen; in: Stimmen der Zeit 12/2012, 799
10) Kant, a.a.O., 61
11) Bischof Fürst hatte im Vorfeld der Veranstaltung den Vorstand der AGR aufgefordert, Schüller wieder auszuladen, weil eine Veranstaltung mit ihm, den Dialogprozess belaste. Daraufhin hatte der vorstand – da es ja um Dialog gehe – auch den Bischof eingeladen. Dieser nahm natürlich die Einladung nicht an, sondern setzte über den Generalvikar die Mitglieder des Vorstands, u.a. durch den Hinweis auf mögliche Sanktionen, unter Druck. Die Pfarrer, z.T. durch Jahrzehnte langen Reformeinsatz „abgeklärt“ bewiesen Rückgrat und setzten ein Zeichen selbstbewussten Ungehorsams. Sie führten die Veranstaltung mit Schüller durch.
12) Veröffentlicht im diözesanen Mitarbeitermagazin „thema kirche“; Sommerausgabe 2011; Zitate aus diesem Trext
13) Martin Werlen, Miteinander die Glut unter der Asche entdecken, Kloster Einsiedeln 2012, 13
14) ebd
15) s. Edgar Utsch, Tu felix Austria, in: SOG-Papiere 2012-2, 7f; in: Zeitschrift ‚imprimatur’, nachrichten und kritische meinungen aus der katholischen kirche, 45. Jg., 2.2012
16) Benedikt XVI., Predigt in der Chrisam-Messe am 5.4.2012 im Petersdom; zitiert nach dem Text unter www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/homilies/2012/documents
17) G.L. Müller, zit. nach Zeit – Online vom 21.07.2012
18) Aus. Profil, 27.08.2011; Quelle: http://www.profil.at/articles
19) in einem „Katpress“-Interview vom 17.08.2012
20) ebd
21) So Zulehner in einem „Furche“-Interview vom 18.08.2011
22) J.-H. Tück in „Der Standard“ vom 17.08.2011
23) Aus: Profil, 27.08.2011
24) Aktionsgemeinschaft Rottenburg, Unsere Positionen im Dialogprozess; Quelle. www.aktionsgemeinschaft-rottenburg.de
25) SOG-Papiere2012/4-5, 16; veröffentlicht in: Zeitschrift ‚imprimatur’, nachrichten und kritische meinungen aus der katholischen kirche, 45. Jg., Nr. 4+5
26) Werlen, a.a.O., 21f
27) ebd., 22
28) Alois Müller, Das Problem von Befehl und Gehorsam im Leben der Kirche, Einsiedeln 1964, 62f
29) s. Paul M. Zulehner, Gehorsam oder „Gehorchsam“? Zur Gehorsamsfallerund um den Aufruf der Pfarrer-Initiative; in: Rotraud A. Perner, Herbert Kohlmaier, Ungehorsam, Wien 2012, 22 – 34
30) Gotthard Fuchs, „Die Kirche ist noch ein Kind“, in: Christ in der Gegenwart 5/2013, 47
31) ebd
32) Hans Küng, Für eine Kirchenreform von unten; in: „imprimatur“ 8/2012, 375
33) Johannes Röser, Der Petrusdiener; in: Christ in der Gegenwart, 7/2013, 75
34) Johannes Röser, Katholisch? Eine Anfrage; in: Christ in der Gegenwart, 5/2013, 48
35) so Paul M. Müller in: “imprimatur” 7/2012, 332
36) Ders., ebd
37) Norbert Lüdecke, Georg Bier, Das römisch-katholische Kirchenrecht – Eine Bilanz, Stuttgart 2012, 84f; zit. nach der Buchbesprechung von Knut Walf in: „imprimatur“, 7/2012, 335
38) ebd., (87), 335
39) ebd., (93), 335
40) Röser, a.a.O..
41) Zit. aus „imprimatur“ 2/2006

 

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