Dr. Michael Schmidt-Salomon

Braucht der heutige Mensch noch Religion?

Matinee am 13. Dezember 2015

Michael Schmidt-Salomon vertritt einen evolutionären Humanismus. Er studierte an der Universität Trier Pädagogik. Der Philosoph und Schriftsteller ist Mitbegründer und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, die sich als Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung versteht (laut Website). Sein 2014 erschienenes Buch Hoffnung Mensch – Eine bessere Welt ist möglich wird Grundlage des Vortrags sein.

Schmidt-Salomon meint:

„Die Antwort auf die Frage, ob der Mensch im 21. Jahrhundert noch Religion benötigt, hängt davon ab, was wir unter dem Begriff ‚Religion’ verstehen. Die dramatische Säkularisierung, die in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa stattgefunden hat, zeigt, dass Menschen ihr Leben auch ohne Rückgriff auf religiöse Deutungsmuster meistern können. Doch geht mit dem Niedergang des institutionalisierten Glaubens auch der ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche’ verloren – das, was Friedrich Schleiermacher als das Wesen des Religiösen begriff?“

Ganz im Gegenteil, so der religionskritische Philosoph Michael Schmidt-Salomon weiter. Denn die Wissenschaft habe die Welt nicht nur entzaubert, sondern ihr zugleich einen neuen Zauber verliehen. Der aufgeklärte Mensch stehe heute staunend vor den unendlichen Dimensionen eines Universums, das viel geheimnisvoller sei, als es sich sämtliche Religionsstifter hätten vorstellen können.

 

Referent: Dr. Michael Schmidt-Salomon
Zusammengefasst von Norbert Bogerts / Matineeteilnehmer

Das tragische Element des Menschen ist: Schon bald nach unserem Tod werden wir vergessen sein – wie sehr wir uns auch immer anstrengen mögen, unserem Leben einen tragfähigen Sinn zu verleihen. Dies gilt nicht nur für den Einzelmenschen, sondern für die gesamte Spezies Mensch. Das irdische Leben insgesamt ist von kurzer Dauer: Aufgrund der kontinuierlich steigenden Strahlkraft der Sonne wird es in 500 Mio. Jahren keine höheren Lebensformen auf der Erde mehr geben, in 900 Mio. Jahren werden sämtliche Pflanzen verschwunden sein, in 2 Mrd. Jahren wird die Erde ein Wüstenplanet sein.

Schon Shakespeare und Schopenhauer haben beklagt, dass wir den Übeln nicht entgehen können. Auch deshalb klammern sich viele an die Rettungsringe des Glaubens. Karl Marx hatte Recht, als er die Religion als Seufzer der bedrängten Kreatur, als Gemüt einer herzlosen Welt, als Opium des Volkes beschrieb. Denn Religion ist nicht zuletzt auch Ausdruck eines ohnmächtigen Protests gegen eine Welt, die so, wie sie ist, nicht sein sollte.

Religionen sind bis heute attraktiv geblieben, weil sie Antworten auf die drei existentiellen Grundprobleme des Menschseins geben:

1. die Erfahrung des Absurden
2. die Widrigkeiten des Lebens
3. die Ungerechtigkeit der Welt

Zu 1.
Am Ende der menschlichen Geschichte steht das sinnlose Nichts. Albert Camus (1913-1960) hat in seinem "Mythos des Sisyphos" die Idee des Absurden klar entwickelt, die sich aus dem unaufhebbaren Widerspruch zwischen der offenkundigen Sinnwidrigkeit der Welt und der ebenso offenkundigen Sehnsucht der Menschen nach Sinn ergibt.

Zu 2.
Die Widrigkeiten des Lebens beginnen schon im Mutterleib. Selbst diejenigen, die unter glücklichsten Umständen leben, sind von Schmerzen, Verlusten, Enttäuschungen, Krankheiten, Tod nicht befreit.

Zu 3.
Die Evolution ist ungerecht. Es gibt keinen Heilsplan in der Natur. Die Kultur unserer Spezies hat die Ungerechtigkeiten oft noch verschärft. Beispiele: absolute Armut; zu Hunger und frühem Tod verurteilte Kinder; auch in den wohlhabenden Gesellschaften sind die Karten von Anfang an auf verstörende Weise ungleich verteilt.

Die Religionen bieten hierzu Lösungsmöglichkeiten an; trotz ihrer Verschiedenheiten weisen sie idealtypische Grundmuster auf.

Hinduismus: Die Ungerechtigkeit gilt als Ausdruck einer tiefer liegenden Gerechtigkeit. Das macht Ungerechtigkeiten erträglicher, aber auch stabiler, denn es bleibt die Hoffnung auf die nächste Reinkarnation.

Buddhismus: Wie der Hinduismus sieht auch der Buddhismus die Nicht-Existenz als Erlösung statt als Bedrohung an; allerdings wird das Nirwana schon im Leben in Aussicht gestellt. Der Mensch muss dazu die vier edlen Wahrheiten beachten und die acht Pfade beschreiten.

Nach dem Judentum lenkt ein allmächtiger Gott das Schicksal seines Volkes. Die Antwort auf die Frage nach der Ungerechtigkeit lautet: "Gott will es so!" Damit ist die Definitionsmacht vom Menschen auf Gott übertragen. Die Heilserwartung ist jedoch innerweltlich, sie besteht in der Aussicht auf eine strahlende Zukunft des auserwählten Volkes.

Das Christentum hofft auf die Auferstehung von den Toten; die Ungerechtigkeit der Welt ist damit nicht das letzte Wort; das Jüngste Gericht eine Endabrechnung. Das Leid ist nicht vergeblich, da die Belohnung im Himmel erfolgt.

Warum aber gibt es überhaupt Leid, für das ein allgütiger Gott nicht zuständig sein kann? Hier bekommt der Teufel seine Funktion und erhält eine besondere Aufwertung. Die Ausbreitung des Christentums erfolgte nicht nur durch das Schwert, sondern hauptsächlich durch seine kosmopolitische Ausrichtung. Es richtet sich nicht nur an ein Volk, sondern an alle Menschen weltweit. Wer ihm folgte, musste sich nicht den Regeln der Thora unterwerfen. Aufgrund der Naherwartung des Weltuntergangs wurde der Alltag in den Heiligen Schriften des Christentums nicht verregelt. Der damit einhergehende Mangel an verbindlichen Normen erlaubte es dem Christentum, sich an jede Kultur und Gesellschaftsform anzupassen.

Im Islam belohnt Allah die Gerechten und bestraft die Frevler. Der Islam ist dem Judentum im Hinblick auf die Verregelung des Alltags näher, hat aber auch den kosmopolitischen Ansatz des Christentums. Dem Glauben nach wird die Umma überleben und den Sieg davontragen (von dieser Idee ist auch der IS beseelt). Für die Benachteiligten ist die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits besonders attraktiv, was erklärt, warum Islam und Christentum die erfolgreichsten Religionen weltweit sind (vor allem in solchen Regionen, in denen soziale Ungleichheiten besonders stark zum Ausdruck kommen).

Zwischenfazit: Die Menschen scheinen Religionen unter bestimmten sozialen Bedingungen zu benötigen. Aber: Die sozialen Verhältnisse wandeln sich permanent. So gab es in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten parallel zu sozialen Fortschritten einen historisch einmaligen Säkularisierungsschub. Offenkundig gilt: Wer am Leben nicht mehr allzu sehr leidet, braucht auch nicht mehr auf Wiedergutmachung im Jenseits für erlittene Qualen im Diesseits zu hoffen.

Die Säkularisierung spiegelt sich auch in der Theologie wieder: Vom ewigen Höllenfeuer wird in Westeuropa schon länger nicht mehr gepredigt. Daraus resultiert allerdings ein theologisches Problem. Was bleibt vom Kernbestand der Religion übrig, wenn man all die Fortschritte in den Glauben integriert, die z.B. in der Hirnforschung oder in der Ethik stattgefunden haben?

Befund: Ein bloß simulierter Glaube (wider besseres Wissen tut man so, als glaube man noch) tritt an die Stelle des wirklichen Glaubens; dieser wirkt zwar weniger naiv, gibt aber keinen Trost mehr, ja die Illusionen schaffen durch ihre Desillusionierung zusätzliches Leid.

Die Fundamente des Glaubens konnten den Erkenntnisfortschritten der letzten 200 Jahre nicht mehr standhalten. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch im Aufkeimen des religiösen Fundamentalismus. Der Fundamentalismus ist nichts anderes als der Versuch, aus lauter Angst des Glaubensverlustes das Verschwinden des Glaubens zuzudecken; er ist also keine Renaissance des Glaubens, sondern sein Abgesang. In den Ungläubigen bekämpfen die Fundamentalisten all jene Zweifel, die sie selbst in sich tragen, ohne es sich eingestehen zu können. Der Fundamentalismus ist daher kein Ausdruck der Macht, sondern der Ohnmacht der Religion - der verzweifelte Versuch, Gewissheiten zu stärken, die längst ins Wanken geraten sind.

Fazit: Der Mensch braucht nicht notwendigerweise Religion, sondern tragfähige Antworten auf die Grundfragen seiner Existenz. Früher haben Menschen diese Antworten in den Religionen gefunden, in der Zukunft werden sie sie eher in Wissenschaft, Philosophie und Kunst finden. Schon heute deuten sich Konturen eines „humanistischen Glaubens“ an, d.h. eines Glaubens an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen, der sich – im Unterschied zu den Religionen – auf empirische Befunde stützen kann.

Diesen humanistischen Glauben hat Schmidt-Salomon am Ende seines Buches "Hoffnung Mensch - eine bessere Welt ist möglich" in folgende Worte gefasst („humanistisches Credo“):



Humanistisches Credo von Michael Schmidt-Salomon

Ich glaube an den Menschen
Den Schöpfer der Kunst
Und Entdecker unbekannter Welten.

Ich glaube an die Evolution
Des Wissens und des Mitgefühls,
Der Weisheit und des Humors.
Ich glaube an den Sieg
Der Wahrheit über die Lüge,
Der Erkenntnis über die Unwissenheit,
Der Phantasie über die Engstirnigkeit
Und des Mitleids über die Gewalt.

 

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